Der Begriff Blasenvorfall, oder medizinisch korrekt Blasensenkung (Zystozele), mag zunächst beunruhigend klingen. Doch handelt es sich um eine relativ häufige Form der Beckenbodensenkung, die viele Frauen betrifft, insbesondere nach einer Schwangerschaft oder im Alter. Wenn die stützenden Strukturen im Beckenboden nachlassen, kann die Harnblase (lat. Vesica urinaria) nach unten sinken – oft in Richtung der Vagina.
Als Physiotherapeutin möchte ich Ihnen hier einen Überblick geben über Ursachen, Symptome einer Frau bei Blasensenkung und vor allem konservative Möglichkeiten zeigen, wie eine Blasensenkung ohne OP behandelt werden kann. Ziel ist es, Ihnen das nötige Wissen an die Hand zu geben, um aktiv etwas gegen eine Beckenbodenfunktionsstörung unternehmen zu können und Ihre Lebensqualität zurückzugewinnen.
Was ist ein Blasenvorfall?
Anatomie vereinfacht
Um den Blasenvorfall zu verstehen, ist ein Blick auf die weibliche Beckenboden-Anatomie hilfreich. Das Becken beherbergt wichtige Organe: die Harnblase, die Gebärmutter und den Enddarm. Die Harnblase selbst liegt normalerweise geschützt vor der Vagina. Die Harnröhre (Urethra) führt von der Harnblase nach außen.
Diese Organe werden durch ein komplexes Netzwerk aus Bindegewebe, Bändern und vor allem dem Beckenboden – einer Schicht aus Muskeln – an Ort und Stelle gehalten. Der Beckenboden fungiert wie eine Hängematte.
Der Mechanismus der Senkung
💡 Ein Blasenvorfall tritt auf, wenn dieses stützende Gewebe und die Beckenbodenmuskulatur ihre Festigkeit verlieren oder geschwächt sind – etwa durch Geburten, chronischen Husten oder einfach altersbedingt durch die Umstellung der Hormone.
Durch diesen Stabilitätsverlust beginnt die Harnblase sich auszudehnen und in die vordere Vaginawand vorzufallen. Je nachdem, wie weit die Blasensenkung fortgeschritten ist, kann dies zu spürbaren und belastenden Symptomen führen.
Welche Symptome hat ein Blasenvorfall?
Die Symptome einer Blasensenkung bei einer Frau sind vielfältig und oft unspezifisch, weshalb sie manchmal spät erkannt werden. Sie sind jedoch wichtige Indikatoren für eine vorliegende Blasensenkung.
Hier die häufigsten Anzeichen, auf die Sie achten sollten:
- Druck- oder Fremdkörpergefühl: Das Gefühl einer "Kugel" in der Vagina oder ein permanentes Druckgefühl im Beckenbereich.
- Schmerzen oder Unbehagen: Allgemeines Unwohlsein im Unterleib oder in der Vagina.
- Harninkontinenz: Unfreiwilliger Harnverlust , oft beim Husten, Lachen oder Sport (Belastungsinkontinenz).
- Miktionsbeschwerden: Schwierigkeiten beim Entleeren der Blase, das Gefühl, dass die Blase nicht komplett leer wird, oder ein schwacher Harnstrahl.
- Dyspareunie: Schmerzen beim Sex durch das veränderte anatomische Verhältnis.
Was sind die Ursachen eines Blasenvorfalls?
Ein Blasenvorfall (Blasensenkung) entsteht nicht über Nacht, sondern ist meist das Ergebnis einer Kombination von Faktoren, die den Beckenboden und seine stützenden Strukturen über Jahre hinweg schwächen.
Faktoren im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt
💡Die Zeit der Schwangerschaft und die Geburt sind die größten Belastungsproben für den Beckenboden.
Eine Beckenbodenfunktionsstörung ist hier oft vorprogrammiert, wenn keine gezielte Prävention oder Rehabilitation stattfindet.
- Lange oder schwierige Entbindungen: Ausgedehnte Presswehen und starke Dehnung während des Geburtsvorgangs können die Bänder und Muskeln des Beckenbodens überdehnen oder sogar reißen lassen.
- Mehrere Geburten (Multiparität): Jede Schwangerschaft und jede Geburt erhöhen das Risiko einer dauerhaften Schwächung der stützenden Strukturen und somit einer Beckenbodensenkung. Daher ist das Beckenbodentraining in der Schwangerschaft und danach essenziell.
Hormonelle Faktoren und das Alter
Mit fortschreitendem Alter verliert das Gewebe allgemein an Elastizität.
- Menopause und Östrogenmangel: Während der Wechseljahre sinkt der Spiegel des weiblichen Hormons Östrogen stark ab. Östrogen ist jedoch wichtig für die Festigkeit und Elastizität des Bindegewebes. Der Mangel führt zu einem Erschlaffen der Gewebe, was die Entstehung einer Blasensenkung begünstigt.
Faktoren zur Erhöhung des Bauchinnendrucks
Jede Tätigkeit, die den Druck im Bauchraum über einen längeren Zeitraum oder wiederholt stark erhöht, drückt von oben auf den Beckenboden und kann zu einer Blasensenkung führen.
- Chronische Verstopfung: Wiederholtes starkes Pressen beim Stuhlgang stellt eine erhebliche Dauerbelastung für den Beckenboden dar.
- Chronischer Husten: Dauerhaftes Husten, verursacht durch Rauchen, Asthma oder andere chronische Atemwegserkrankungen, erhöht ständig den Druck auf die Beckenboden-Muskulatur.
- Regelmäßiges Heben schwerer Lasten: Berufe oder Sportarten, die ein häufiges Tragen oder Heben schwerer Gegenstände erfordern, ohne die richtige Beckenboden-Aktivierung, können zur Ermüdung und Schwäche führen.
- Übergewicht (Adipositas): Ein hohes Körpergewicht übt einen konstanten, erhöhten Druck auf den Beckenboden aus und trägt zur Entwicklung einer Blasensenkung bei.
Die Schritte zur Diagnose des Blasenvorfalls
Wenn Sie die genannten Symptome einer Blasensenkung bei sich feststellen, ist der erste Schritt der Gang zu Ihrer Gynäkologin oder Urologin. Die Diagnose eines Blasenvorfalls (Blasensenkung) erfolgt in der Regel durch eine Kombination aus körperlicher Untersuchung und ergänzenden Verfahren.
Die Klinische Untersuchung
Der wichtigste Schritt ist die gynäkologische Untersuchung (vaginale Untersuchung). Hierbei wird der Grad des Vorfalls beurteilt:
- Vaginale Tastuntersuchung: Die Ärztin führt eine Tastuntersuchung durch, oft während Sie gebeten werden, zu pressen oder zu husten, um den Grad der Blasensenkung festzustellen. Hierbei wird geprüft, wie weit die Harnblase in die Vagina vorgedrungen ist.
- POP-Q-System: Zur standardisierten Beurteilung wird häufig das sogenannte POP-Q (Pelvic Organ Prolapse Quantification) System verwendet. Dieses System ermöglicht eine objektive und präzise Klassifizierung der Beckenbodensenkung in verschiedenen Stadien (Grad I bis IV).
Ergänzende Untersuchungen
Je nach Beschwerden und Befund können weitere Untersuchungen notwendig sein:
- Becken-Ultraschall: Mittels Ultraschall (Echographie) kann die Position der Blase, der Zustand der Nieren und die Restharnmenge nach dem Toilettengang überprüft werden.
- Urodynamische Untersuchung: Bei ausgeprägten Harnspeicher- oder Entleerungsstörungen ist ein Urodynamik sinnvoll. Hierbei wird die Funktion der Harnblase und der Harnröhre unter Druck gemessen, um die Art der Beckenbodenfunktionsstörung genau zu bestimmen.
Wie kann ein Blasenvorfall gelindert und behandelt werden?
💡 Die gute Nachricht ist: Ein Blasenvorfall muss nicht immer operiert werden. Konservative Methoden sind oft sehr erfolgreich, insbesondere bei leichteren Formen der Blasensenkung.
Ziel ist es, den Blasenvorfall ohne OP behandeln zu können.
Beckenboden-Rehabilitation
Das ist oft die erste Maßnahme, insbesondere bei leichten bis mäßigen Formen. Sitzungen bei einer Physiotherapeutin oder einem Physiotherapeuten bzw. einer Hebamme ermöglichen es, die Beckenbodenmuskulatur zu stärken.
Nachdem man gelernt hat, die Beckenbodenmuskeln unter Anleitung einer Fachkraft korrekt anzuspannen, kann die Rehabilitation zu Hause fortgesetzt werden. Vaginalsonden in Verbindung mit einer App, wie Perifit Care+, nutzen Biofeedback, um die eigenen Muskelaktivitäten sichtbar zu machen und langfristig selbstständig Fortschritte zu erzielen.
Das Pessar
Das Pessar ist ein Hilfsmittel zur Behandlung des Blasenvorfalls:
- Was ist es und wie funktioniert es? Es handelt sich um ein flexibles intra-vaginales Medizinprodukt (Tampon-, Ring- oder Würfelform), das in die Vagina eingeführt wird. Es stützt die vorgesunkene Harnblase mechanisch von unten.
- Empfehlung: Pessare sind eine hervorragende Option, um einen Blasenvorfall ohne OP behandeln zu können. Die Beratung und Anpassung eines Pessars kann in der gynäkologischen Praxis, im Beckenbodenzentrum oder bei Beckenboden-Physiotherapeutinnen durchgeführt werden.
Lokale Hormonersatztherapie
Besonders für Frauen nach der Menopause ist dies oft eine wichtige Begleittherapie:
- Östrogencremes: Die lokale Anwendung von östrogenhaltigen Cremes oder Zäpfchen in der Vagina verbessert die Durchblutung und die Elastizität des Bindegewebes. Dies stärkt die Vagina und die stützenden Strukturen und kann die Symptome der Blasensenkung lindern.
Die Chirurgische Behandlung
Eine Operation wird in Betracht gezogen, wenn der Blasenvorfall starke Beschwerden verursacht, die Lebensqualität erheblich einschränkt oder wenn konservative Maßnahmen gescheitert sind:
- Wann ist eine Operation sinnvoll? Bei ausgeprägten Senkungsstadien oder wenn das Training und das Pessar keine ausreichende Linderung bringen.
- Techniken: Die Operation kann entweder über die Vagina (z.B. durch eine vordere Scheidenplastik) oder minimalinvasiv mittels Laparoskopie (Schlüsselloch-Chirurgie) erfolgen.
- Zystozelenkorrektur: Durch die Raffung des Gewebes wird die Blase wieder angehoben oder mithilfe von synthetischen Netzen oder körpereigenem Gewebe, welches an der Gebärmutter oder am Kreuzbein (Promontorium) befestigt wird, kann die Blase dauerhaft gestützt werden.
- Postoperative Phase: Die Erholungszeit variiert und liegt oft bei einigen Wochen. Körperliche Schonung und der Verzicht auf das Heben schwerer Lasten sind unerlässlich.
Leben mit und Prävention eines Blasenvorfalls
Es ist wichtig zu verstehen, dass ein Blasenvorfall oft durch alltägliche Gewohnheiten beeinflusst wird. Durch einen bewussten Lebensstil und gezielte Vorsichtsmaßnahmen können Sie das Risiko minimieren oder eine Verschlechterung der Symptome vermeiden.
Die beste Behandlung ist die Prävention. Hier sind die wichtigsten Empfehlungen:
- Gesundes Körpergewicht halten: Übergewicht erhöht den ständigen Druck auf den Beckenboden. Das Erreichen und Halten eines gesunden Gewichts ist eine der effektivsten Präventionsmaßnahmen gegen eine Beckenbodensenkung.
- Darmgesundheit pflegen: Chronische Verstopfung und ständiges Pressen beim Stuhlgang sind schädlich für die Stützstrukturen. Achten Sie auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr und eine ballaststoffreiche Ernährung.
- Regelmäßiges Beckenbodentraining: Führen Sie das Beckenbodentraining konsequent fort, auch lange nach einer Entbindung. Regelmäßige Übungen helfen, den Beckenboden zu kräftigen und die Organe zu stützen.
- Schutz beim Heben: Erlernen Sie die korrekten Hebetechniken. Vermeiden Sie es, schwere Lasten aus dem Stand zu heben, und aktivieren Sie Ihren Beckenboden vor jeder Belastung, um den Druck optimal zu verteilen.
Der Blasenvorfall (Blasensenkung) ist eine häufige Beckenbodenfunktionsstörung, die jedoch gut behandelbar ist. Es ist entscheidend, dass Frauen bei ersten Anzeichen wie einem Druckgefühl oder den genannten Symptomen einer Blasensenkung den Mut fassen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Denken Sie daran: Einen Blasenvorfall ohne OP zu behandeln ist in vielen Fällen möglich. Durch gezielte Physiotherapie können Sie die Kontrolle über Ihren Körper zurückgewinnen und Symptome wie Schmerzen beim Sex oder Inkontinenz lindern. Wenn konservative Methoden nicht ausreichen, bietet die moderne Medizin effektive chirurgische Lösungen. Wichtig ist, dass Sie aktiv bleiben, Ihren Beckenboden stärken und in Absprache mit Ihrem Arzt oder Ihrer Therapeutin den für Sie besten Weg finden, um Ihre Lebensqualität nachhaltig zu verbessern.
Quellen:
- https://www.urofrance.org/sites/default/files/fileadmin/documents/data/PU/2016/3247/68308/FR/1077886/main.pdf
- https://link.springer.com/article/10.1007/s00192-015-2832-4
- https://www.deutschesgesundheitsportal.de/2022/03/04/harninkontinenz-der-frau-erste-vereinheitlichte-s2k-leitlinie-erschienen/
- https://www.tk.de/techniker/krankheit-und-behandlungen/erkrankungen/behandlungen-und-medizin/gynaekologische-und-urologische-erkrankungen/was-sind-eine-gebaermuttersenkung-und-ein-gebaermuttervorfall-2017328
- https://urogynaekologie.berlin/patientinneninformation/behandlungsspektrum/operativ/zystozelenkorrektur/




